Gedanken

Ich bin nicht mitten in der Zeit
Und nicht ganz außer ihr. Das unteilbare Fluten weit
des sel 'gen Nu ist 's hier.
So wie ein sonderbarer Traum
verbinden Formen sich.
Die Feder, die im Winde fliegt,
ist nicht so leicht wie ich.
Wie eine Mühle flügellos,
so mahlt mein Kopf die Stille.
Mein Herz: ein Derwisch ohne Sitz
Und ohne Wunsch und Wille.
Ein Efeu ist die Welt für mich,
die Wurzeln sind in mir.
Ich schwimm´ in einem blauen Licht,
in reiner Bläue hier.
[AHMET HAMDI TANPINAR 1901-1962)
Übersetzung: Annemarie SCHIMMEL


Selbstvergessenheit / Geistesgegenwart

Halise Bayram setzt sich ganz dem Prozess einer peinture automatique aus, einer automatischen Malerei; sie überlässt sich im Schaffensprozess ganz ihrer Intuition und dem Impetus der spontanen Geste: Hochkonzentriert, doch mit einer Leichtigkeit, die vielleicht nur unter Ausschluss alles Gewollten erreichbar ist, führt sie den Spachtel über die aufgetragenen Farben.

Selbstvergessenheit: Das eigene Selbst vergessend öffnet Halise sich, gibt sich dem Fluss von Gedanken, Emotionen, Erinnerungen hin, die in ihrem Innersten vorbeiziehen. Was ihr geistiges Auge schaut, wird ihr selbst oftmals erst bewusst, wenn ein Werk vollendet ist. Dann erst sieht sie selbst: Abstrakte Strukturen und Motive überziehen die Bildfläche, manchmal regelrechte Landschaften, Tiere, Gestalten. Kraftvoll strahlende Farben brechen unter monochromen Flächen hervor. Monochrome Flächen legen sich verhüllend, schützend auch, über fragile Farbgebilde. Ein Wechselspiel. Und doch ein Ganzes.

Konkrete Begegnungen, Ereignisse und Eindrücke, mitgetragene Bilder, literarische, musikalische Assoziationen — kürzlich Erlebtes oder lange nicht Bewusstes, individuell Biographisches und kulturelles Erbe — Vielfältiges steigt im kreativen Gestus an die Oberfläche und verschafft sich Resonanz.

Wissen hält inne, Sprache versiegt, Zeit verliert ihre Kontur: Im Grenzgebiet des nicht Bewussten verflüchtigen sich die Koordinaten der Gewissheit, lösen sich auf in einer Sphäre leiser Ahnungen, Erinnerungen, manchmal unergründliche Bilder. Freie Assoziationen erwachen, verwandeln sich im nächsten Moment zu einem neuen Kontext.

Alles bleibt offen.

Spontan, aber mit äußerster Präzision strukturiert Halise Bayram den Bildgrund. Behutsam kreisende, dann wieder fast schroffe gen durchziehen die Farbflächen, wühlen sie auf und führen doch zu harmonischen Kompositionen. Meditatives Schweben. Es scheint, als habe Halise Bayram für Augenblicke einen hauchfeinen Schleier gelüftet, der Ursprüngliches, Wesentliches bedeckt. Selbstvergessen, geistesgegenwärtig lässt sie sich im Akt des Abstrahierens zu Themen und Motiven führen, die sie bewegen.

Geistesgegenwart. Das ist kein aufgeregtes Aufpassen, kein ungeduldiges Warten; das ist im Einklang sein, sich Einlassen auf den Rhythmus von Leben und Energien, empfänglich sein für das, was sich im Moment mitteilen will: Freude, Schmerz, Wut, Hoffnung, Lebenslust, Angst, Übermut, Liebe.

Selbstvergessenheit — Geistesgegenwart: Aus dieser sensiblen Balance entstehen vielschichtige Kompositionen mit dicht verwobenen, dynamischen, fast pulsierenden Farbtexturen — oftmals organische Strukturen, die den Blick des Betrachters von einem Äußeren tief in ein Inneres führen. Nähe und Distanz liegen dicht beieinander. Der forschende Blick ins Verborgene. Das könnten Seelenlandschaften sein; ebenso aber auch Adern, Organe. Einblicke ins Physische. Alles bleibt offen.

Wie Seelisches und Physisches ineinandergreifen hat Halise Bayram als Ärztin, vor allem als Anästhesistin über viele Jahre erlebt. Anästhesiologie, zusammengesetzt aus griechisch: CM = nicht, aisthesis = Wahrnehmung, Empfindung und logos = Wort. Anästhesiologie, das ist die Lehre von der Nichtwahrnehmung, von der Nichtempfindung.


Anästhesiologie, das ist, wie Dr. Halise Bayram sagt, eine medizinische Disziplin, die im wahrsten Wortsinne auch Geisteswissenschaft ist. So präzise und sicher Anästhetika heute dosiert werden können, um den Körper in den Zustand der Betäubung zu versetzen — so wenig weiß man tatsächlich, was derweil im Geiste des Menschen vor sich geht. In welchem Moment setzt das Empfinden, setzt die Wahrnehmung tatsächlich aus?

Anästhesie, das ist ein Grenzgebiet: Der Patient im Zustand der Unempfindlichkeit, Selbstvergessenheit — die Ärztin mit äußerster Geistesgegenwart präsent. Ein Zusammentreffen, das auf unbewusster Ebene möglicherweise Kommunikation ist?

Während dem Patienten sein Bewusstsein genommen ist, muss ich als Ärztin selber umso bewusster agieren, aufmerksam sein, ich muss doppelt und dreifach wachsam sein und gewissermaßen für ihn mit empfinden, so Dr. Bayram.

Sensibilität: Sie verzeichnet auch kleinste Schwingungen und Regungen, übersetzt sie in den gestalterischen Gestus, verleiht ihnen einen neuen Ausdruck.

Dass sie viel seelischen und intellektuellen Reichtum, dass sie sehr diverses Lebensgepäck mit sich trägt, war Halise Bayram sicherlich immer bewusst; dies erklärt sich allein schon durch die Vielfältigkeit ihrer Interessen, durch ihre Offenheit, ihre Durchlässigkeit, ihren ganzheitlichen Blick auf das Leben. Dass sich ihr Erfahrungsschatz, ihr Lebensfundus aber in einem künstlerischen Arbeiten Bahn bricht, dass Kompositionen von solcher Kraft und ästhetischer Qualität entstehen, das kann Halise Bayram selbst kaum erklären.

Die Bilder sind ja wie meine Gäste. Sie kommen zu mir. Ich weiß nicht, woher sie kommen. Aber ich bin froh, dass sie da sind, sagt sie. Und sie ist eine perfekte Gastgeberin, sie nimmt die unangemeldeten Gäste auf, wendet sich ihnen zu, lauscht ihnen, betrachtet sie, wundert sich, lacht, wird nachdenklich. Mal sind es sehr ernste Gespräche, die um Existenzielles kreisen; mal ist es vergnügte Plauderei voller Freude und Leichtigkeit. Immer ist es ein Dialog, ein Fragen, eine Suche nach Erkenntnis.

Halise Bayrams Werke sind empfindsame Projektionsflächen, Resonanzkörper, durch die sie auf wissentlich wie unwissentlich Erlebtes und Erfahrenes, auf Begegnungen mit Menschen, Landschaften, Kulturen reagiert: intime Selbstbefragungen und zugleich leiden-schaftliche Bekenntnisse zur Außenwelt und zur faszinierenden Vielfalt des Lebens. Sie entfalten sich, sprechen uns an, berühren uns, wenn das Vordergründige, Gewusste, Eindeutige verstummt.

© Eva Marie Ehrig M.A. (Kunsthistorikerin)


Es gibt ein Lernen, das uns verstehen lässt, was wir
sind. Aus diesem Verständnis entsteht eine völlig neue
Art des Handelns: w u w e i. Das heißt handeln durch
Nichteingreifen, durch Geschehen lassen. Es ist die
Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu über
-lassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die
Laotse einst das Tao genannt hat... Gekoppelt mit
dieser Bereitschaft ist die Notwendigkeit unsere Sinne
in immer größerem Maße der Gegenwart zuzuwenden.
(Theo Fischer: WU WEI)


Man kann sagen der Künstler hat die Begabung sich
permanent selbst zu heilen und seines Heils habhaft
zu werden in dem Maße, dass er es exemplarisch
anderen zu vermitteln vermag, die sich offen auf sein
Werk einlassen.
(Franz Josef van den Grinten 2003)


Und wenn Er alle Wege und Pässe vor dir schließt, Zeigt
einen Weg, geheim, Er, den niemand noch gekannt!
RUMI